📘 DIE EISTAUCHER

Titel: Die Eistaucher
Autorin: Kaƛka Bryla

❀ Dieses Buch hat mich schon vor Erscheinungstermin in seinen Bann gezogen – allein durch die Leseprobe. 

🔖 Inhalt:
Am Beginn lernen wir SaĆĄa kennen. Er betreibt einen Campingplatz am Rande eines Naturschutzgebietes. Und wir erfahren: Auch Iga und Jess sowie der gemeinsame Sohn Jakob sind nicht weit. 
Und dann sind da noch die blutleeren, toten Tiere, die seit der Ankunft des Fremden auftauchen. Jenes Fremden, von dem SaĆĄa sofort ahnt, dass er Bescheid weiß. Von dem, was geschehen ist. Von dem, an das SaĆĄa nicht mehr denken will. 
Die in der Gegenwart angesiedelten, von SaĆĄa erzĂ€hlten Kapiteln bestehen aus Erinnerungs- und Gedankensplittern, die auf ein tragisches Ereignis in der Vergangenheit deuten.  
“Manchmal denke ich dann, dass ich mir das alles nur einbilde. Dass nichts davon wirklich geschehen ist und Franziska Fellbaum irgendwo glĂŒcklich mit dem Peter lebt. Und der Jakob schon groß ist. Nicht wie unser Jakob, der noch ein Kind ist.” 
Noch wissen wir nichts von der Fellbaum. Oder vom Peter. Oder auch von Jakob, dem Sohn der beiden, Und schon gar nichts wissen wir von Iga und Jess. Oder auch von Ras, der nur einmal im Jahr kommt. 

Bryla hebt einzelne, hauchdĂŒnne FĂ€den hoch und lĂ€sst sie vor unserem inneren Auge schweben. FĂ€den, die sie erst nach und nach zu einem dichten Stoff verwebt. Dann nĂ€mlich, wenn wir – aus wechselnden Perspektiven – die Eistaucher kennenlernen, in einer Zeit zwanzig Jahre zuvor, in der sie zusammenfinden.  Da ist Iga. Die Neue an der katholischen Privatschule, mathematisch hochbegabt jedoch eine heillose SchulschwĂ€nzerin; Iga, deren Vater androht, sie (und die Mutter, die kaum zu Hause ist, weswegen Iga oft lĂŒgen muss) nach Polen zu holen. 
Und da ist Jess, die HĂŒbsche, die so sehr auf ihren Stil achtet und sich im Sommer unsterblich in die in Frankreich lebende Tifenn verliebt hat, von der sie schließlich verlassen wird. 
Und Ras, der eigentlich Rasputin heißt. Ras, der dicke Rothaarige, der sich wie Ikarus fĂŒhlt, Schokoriegel isst und gefundene Dinge sammelt, bis er Gedichte zu schreiben beginnt. Ras, der von einem MĂŒllberg begleitet wird – egal, wohin er geht. 

Iga, Ras und Jess sind die Eistaucher. Zu ihnen wird spĂ€ter – ausgelöst durch die Ereignisse – auch noch der Psychologiestudent SaĆĄa gehören, Igas bester Freund. 
Und dann sind da noch Rilke-Rainer und der schöne Sebastian, die gemeinsam mit Jess “Die Avantgarde” bilden – eine Clique, der auch Ras und Iga beitreten und die nach dem Motto „Ohne Poesie keine Welt“ lebt. 
Und natĂŒrlich Franziska Fellbaum. In die alle ein bisschen verknallt sind. Allen voran Iga, die ihre Französischlehrerin an den Mittwochnachmittagen im ParkcafĂ© trifft und sie sogar auf ihr Longboard steigen lĂ€sst. 

Es ist eine zarte, herzerwĂ€rmende Coming-of-Age-Geschichte, die Kaƛka Bryla erzĂ€hlt. Eine Geschichte ĂŒber Freundschaft, Zusammenhalt und Liebe (sei es nun die erste oder zweite oder auch eine spĂ€te, sei es eine erfĂŒllte, unerwartete oder auch ersehnte). 
Und mitten in diese Teenagerleben, die ohnehin schon durcheinandergewirbelt sind, bricht dann die Katastrophe, die alles verĂ€ndern und “Die Eistaucher” fĂŒr immer zusammenschweißen wird.

💬 Meine Meinung: in bisschen schade fand ich, dass bereits im Umschlagtext verraten wurde, dass die Teenager Gewalt durch Polizeibeamte beobachten und sich daraufhin radikalisieren werden. Mit diesem Vorab-Wissen ging es mir dann doch ein bisschen wie mit dem rosa Elefanten, den ich viel zu frĂŒh an jeder Ecke erwartet habe. Ich persönlich wĂ€re der Handlung noch lieber ohne dieses Vorwissen gefolgt, denn Kaƛka Bryla verwebt ihre HandlungsstrĂ€nge ohnehin so geschickt, dass die ĂŒber lange Strecken sehr zarte, behutsame ErzĂ€hlung gleichzeitig ungemein spannend ist. Man will wissen, wie es mit den Jugendlichen weitergeht. Man will wissen, was aus Iga und der Fellbaum wird. Und was dieser Fremde weiß. Und ob Ras seinen MĂŒllhaufen jemals wieder loswird 
 Und was es mit den Tieren auf sich hat.

Bryla erzĂ€hlt in einer schnörkellosen, prĂ€zisen Sprache und lĂ€sst uns wĂ€hrend des Lesens mitleben, mitleiden und mitlieben – und ja, auch mitspĂŒren, denn die Beschreibungen sind stellenweise hocherotisch.

Fazit: Die Eistaucher” ist die Geschichte einer Radikalisierung , aber nicht nur. Allem voran geht es um die Liebe. Nicht nur die erotische zwischen zwei Menschen, sondern auch (und vor allem) um die NĂ€chstenliebe. Die etwa darin besteht, ein fremdes MĂ€dchen, dem Unrecht getan wurde, nicht im Schnee liegenzulassen.

Besonders schön: Die gendergerechte Sprache – und das, ohne auch nur an einer einzigen Stelle sperrig zu wirken. (Ich kann mich an dieser Stelle nur bedanken – endlich gibt es ein literarisches Vorbild.) 
Und auch inhaltlich setzt die Autorin ein schönes Zeichen. Als wĂ€re es lĂ€ngst alltĂ€glich (und selbst 1996 schon Usus gewesen), dass sich zwei MĂ€dchen oder auch zwei Jungen vor den Augen aller einfach so kĂŒssen – Kaƛka Bryla schreibt es einfach hin. Auch das macht dieses Buch so schön!

P.S.: Kleiner Tipp am Rande: Im Buch wird auf “Der Horla” von Guy de Maupassant Bezug geommen. Falls Sie die ErzĂ€hlung noch nicht kennen: Man kann sie online >HIER nachlesen. Ist absolut keine Voraussetzung, um “Die Eistaucher” zu verstehen, denn  es gibt im Buch eine knappe Zusammenfassung –  ich wollte nach der LektĂŒre dann aber doch auch das Original kennenlernen. 


Diese Rezension erschien auf dem Blog von & Radieschen – Zeitschrift fĂŒr Literatur; 
außerdem habe ich den Roman
in der Maiausgabe unserer Radiosendung 7shoG vorgestellt.
Das Buch hatte ich mir zum Geburtstag gewĂŒnscht.

Titel: Die Eistaucher
Autorin: Kaƛka Bryla
Verlag: Residenz
Publikationsjahr: 2022
ISBN: 978–3‑7017–1751‑4 
Seiten: 320
> Verlag / Leseprobe

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