[MAGAZIN]

Wir haben alles. Wir jammern auf hohem Niveau. Wir tun uns leid, wenn das Manuskript nicht angenommen wird, wenn es keine Lobeshymnen regnet. 95% derjenigen, die unsere Literaturzeitschrift lesen, sind wahrscheinlich Autor*innen. 80% von ihnen geht es vielleicht wie mir – sie verfallen in Selbstmitleid, wenn es mal nicht so klappt. Vielleicht kennen 40% das Leben unter dem (von anderen festgeschriebenen) Existenzminimum. Regelmäßig Café-Latte-Trinken-Gehen, ein Yoga-Zwanzigerblock, genügend Karten für die Viennale, ein Theater-Abo, Besuche im Grazer Literaturhaus (das im Gegensatz zu dem in Wien Eintritt verlangt) sind da einfach nicht drin. Egal. Es geht auch so: Den Corona-Stillstand weiterleben. Den Kaffee vor dem Computer trinken (mit Bio-Zimt und Hafermilch vom Müller), Kino-Abende im Wohnzimmer einer Freundin mit Netflix-Abo, auf Lesungen freiwillig verzichten, weil dort sowieso nur Autor*innen im Publikum sitzen (die dich alle fragen, wie es dir mit dem Schreiben geht und ob du auch zu ihrer Lesung kommst). Statt Yogastudio die ORF-TVthek aufrufen und mit Philipp Ich-bin-der-größte-Schmähmaster-aller-Zeiten-und-hab-die-effektivsten-Übungen-gegen-den-Schriftsteller*innen-Nacken-Jelinek turnen. Danach das Klimaticket nutzen. Im Zug ist es warm, dort gibt es schnelleres W‑Lan als zu Hause. Aussteigen irgendwo, zum Beispiel in Köflach. Auf dem Maestoso-Rundweg die Haseln begrüßen, Gehen statt Yoga, Niesen als Achtsamkeitsübung. Meine Hose hat Schmutzränder, meine Schuhe hinterlassen getrockneten Matsch. Meine Brüder und Schwägerinnen rümpfen die Nase, ihre Wohnzimmer sind marmorgefliest, sie arbeiten Vollzeit, »was Sinnvolles«. Sie kurbeln die Wirtschaft an, nur so geht´s uns allen gut. Sie kaufen bei Zalando und Co: »Bestell zehn, schick acht zurück.« Sie trennen den Müll, kaufen Fairtrade, geben ihren Hunden veganes Futter. Sie haben einen SUV mit Elektroantrieb. Im Sommer befüllen sie ihre Swimmingpools mit Trinkwasser, dem DHL-Mann winken sie in Badekleidung zu: »Stell´s einfach am Zaun ab!« Währenddessen setze ich schwitzend das nächste Romanmanuskript in den Sand. Währenddessen brettern die Lieferwägen über die Autobahnen. Währenddessen sterben Tausende in Kriegen, die angeblich keine*r wollte. Währenddessen verhungern Menschen, weil es für sie nicht einmal eine Handvoll Reis gibt. Währenddessen werden Küsten überflutet, weil das Eis auf den Polkappen schmilzt. Währenddessen vernichten Walbrände ganze Landstriche. Nein, stopp! – Nicht darüber nachdenken. Lieber zur Netflix-Freundin gehen. Ihr ein &Radieschen mitbringen. Davor die Texte rausreißen, in denen es um Femizide geht. Oder um Armutsgefährdete. Oder um Schwersttraumatisierte. Oder um … verdammt, alle Texte rausreißen. Das Cover ist auch schön, das kann sich die Freundin an die Wand hängen. Auf Netflix wählen wir eine Komödie. Ein Tag ohne Lachen ist bekanntlich ein verlorener Tag. 

Editorial zum Thema Hülle & Fülle/ &Radieschen-Zeitschrift für Literatur, Feber 2024
Das Titelbild oben ist KI-generiert, das im Text erwähnte Cover hat Eva Vasari gestaltet